
„Ich weiß, dass es zum Wissen genug gibt“, sagt ein Mädchen im Schulsaal. „An jedem Tag“, schiebt sie nach. Sie scheint erleichtert, eine gute Ablenkung vom Ausfüllen einer Rechentabelle im Heft Mathe-Ü gefunden zu haben. Man muss die Zuversicht des Mädchens anerkennen und selbst daraus eine Gewissheit schöpfen. Jeden Tag kann man Neuem begegnen, Unterschiede erfahren und dazulernen. So lauten die vom Schulkind gesetzten Vorzeichen, die es leicht machen, Wissen mit Lernen gleichzusetzen.
Man kann aus der Zuversicht des Schulkindes auch die Hoffnung schöpfen, die im Lauf der Geschichte entwickelten Verfahren zum Sammeln von Erkenntnis seien in der Lage, sich zu erneuern und unsere Produktion von Sinn wäre noch nicht erschöpft. Schließlich wächst das lernende Kind unserer Tage auf im Nachklang der radikalen Feststellung, es seien die Zeichen frei flottierend und hätte sich längst die Bedeutung vom Zeichen als seinem einstigen Träger gelöst. Aber nichts soll doch sinnlos sein, alles auch weiterhin einen Wert haben.
Die Fülle an Information und Wissen, Fakten und Zusammenhängen ist ein fester Bestandteil in unserer Vorstellung vom Kommunikationszeitalter. Überforderung ist zu einer kollektiven Erfahrung geworden und in unserer Gesellschaft nicht das Problem von ein paar wenigen.
Im Tonfall eines konventionellen Erziehungsbegriffs resultiert daraus der Wunsch, die Kinder mögen lernen, später die entscheidenden Optionsfelder zu markieren und im Leben ihre Häkchen im richtigen Kontrollkästchen zu setzen. Für die Pädagogen in der Schule wird das zum Zuruf von Eltern und Berufsverbänden, es solle den Kindern bitteschön beigebracht werden. Ja, schallt es ganz zeitgemäß, unverbindlich und kompetenzorientiert zurück, man muss schon lernen zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht.
Die Marbacher Pädagogik setzt voraus, dass die Kinder selbst entscheiden, welche Situation, welche Anregung, welches Zeichen ihnen zum Bildungsanlass wird. Diese pädagogische Haltung fußt auf einer derzeit gültigen Beschreibung des menschlichen Lernens und einer guten Kenntnis kindlicher Lernwege. Sie gilt keinesfalls als Anerkennung eines Fetisches in Person des Nachwuchses, der noch vom Kindersitz auf der Rückbank in die Entscheidungen der Erwachsenen am Lenkrad greift. Marbacher Pädagogik konnte sich entwickeln, weil Erwachsene die Schule in der gewachsenen Nachbarschaft von Kaserne und Gefängnis neu profilieren wollten, weil sie in der Bildungseinrichtung ihre Erfahrungen und Vorstellungen von demokratischem und kollegialem Miteinander gespiegelt sehen wollten.
Seit einem halben Jahrhundert werden die Wirkungen von Macht und Autorität innerhalb des Systems Schule beschrieben und inzwischen ist es gelungen, hier Akzente zu setzen, die unsere demokratische Erwartung spiegeln können. Mancher pädagogische Aktionismus der zurückliegenden Jahre hat dabei jedoch das Prinzip der Herausforderung auch ohne die Parameter der Anstrengung buchstabiert. Kleingeredet wurden damit die anteiligen Ansprüche am Erfolg des Lernprozesses, die von Mut, Selbstregulierung und Durchhaltevermögen gestellt werden. Deshalb macht die Marbacher Pädagogik Schulkindern die Schule als Erfahrungs- und Überaum für Techniken möglicher Selbstdiziplinierung kenntlich.
Eine Bildungsschule setzt auf die Freude am Lernen und räumt daher auch der Lust der Lernenden viel Raum ein. Die Lust selber ist für die Marbacher Pädagogik ein wichtiger Aspekt von Bildung. Unter der Last der Zumutungen sind Kinder wie Erwachsene aufgefordert zu ihren Anwandlungen und von Lust angezettelten Vorhaben Position zu beziehen. Wir sehen uns in der Lage, dafür in unserem Tun innezuhalten, Prioritäten zu setzen und zu verschieben. Dieses Vermögen ist im Schulsaal in zahlreichen Gesprächen und Absprachen für die Schulkinder erlebbar.
Marbacher Pädagogik ist wirksam an der Freien Schule Christophine in Marbach.
„Und was arbeitest du?“, heißt die gängige Frage im Schulsaal, wenn die Kinder sich für ihr Schultun organisieren. Der Impuls des Schulkindes erfährt dabei alle Affirmation, die Motivation immer benötigt. Und viel Zumutung, die den begrenzten Möglichkeiten der Lernumgebung geschuldet ist: die Aufsichtspflicht beschränkt, die Unterrichtszeit reguliert, der Raum erschwert, die Ressourcen sind knapp … Da lernt das moderne Kind nicht anders als jenes vor vielleicht zweihundert Jahren, als die Bedeutung solcher Herausforderungen erkannt wurde und Bildungsprozesse erstmals der Welt des „entfremdeten Geistes“ zugewiesen wurden. Die Begabung des Kindes wird gesehen, die Charakterbildung provoziert.
Wenn demnach im Schulsaal noch ein Flüstern Georg Friedrich Wilhelm Hegels zu vernehmen ist, so könnte draußen am Giebel der Schule in greller Leuchtschrift ein Memento blinken: „Übe.“ Diese Aufforderung, ausgesendet auf der Wellenlänge der Konstruktivsten, wird transportiert wie der Begriff des Trainings, den die Schulkinder aus ihren Übungsstunden in der Tanzschule oder dem Turnverein kennen: „Stelle dich, konzentriere dich, um der großen Überforderung zu widerstehen, die angesichts unzähliger Herausforderungen lauert.“ Übungen in der Schule sind damit alle Handlungen der Schulkinder, die die Zahl ihrer Möglichkeiten auch jenseits der Schultüre vergrößern. Folglich muss nicht jede Schwäche mit Stärke überwunden werden, vielmehr können verschiedene Phasen des Übens unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten mit sich bringen.