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Kullernde Begehrlichkeit von fragwürdiger Reife

Lorenz Obleser Kastanien

Nichts hätte ich aufgeschrieben, wäre da nicht die Überlegung gewesen, dass es noch Sommer sein könnte und mich das Nachdenken über die Wiederkehr vergangener Momente in aktuellem Gewand bestimmte. Aber Provokationen des Zeitgefühls halte ich aufgrund ihrer irritierenden Nachhaltigkeit für bedenkenswert, solange sie nicht münden in der Schmeichelei aller Sorgenfalten: „Kinder, wie die Zeit vergeht.

Der Lauf der Tage mit dem kleinen Kind führte werktags durch den Park. Schließlich aber galt die Tochter während der Arbeitszeit der Mutter als abgestillt, und mit einem Mal war der Park nicht mehr Teil eines täglichen Gangs, sondern ein Halt auf weiter Fläche unter großen Bäumen. Mit dem Ende der langen Schulferien konnte hier nun wieder im Schein der immer kraftloser werdenden Sonne aller Übermut nachmittäglicher Langweile seinen Platz finden.

Dieser Text ist wohl schon etwas älter, gehört dann wohl zu den Keimlingen der Marbacher Pädagogik. LO

Gleich beim Eingang zum Kleinkinderspielplatz, nahe des plätschernden Brunnens, stoppten die Räder des großen Kinderwagens. Winzige Buben ratterten auf ihren Rutschern ins Weite, und das Flehen der Mütter um sofortiges Inne- und Anhalten hinterher. Lang waren schon am frühen Mittag die Schatten der hohen Bäume, und in den warmen Streifen war noch gut sitzen, plaudern und Aufsicht pflegen.

Lautes Aufschlagen, Stein auf Stein, hatte mich im Rumstehen aufgeschreckt und die unter meiner Aufsichtspflicht stehenden Kinder in Sekunden verorten lassen. Bei der Wiese gegenüber waren große Buben dabei, mit allem was sie für geeignet hielten, nach Früchten zu werfen, deren grüne Schale in den Kronen der Bäume strahlten. Alle groben Stöcke und gebrochenen Äste, die umliegend zu greifen waren, hatten ihnen beim Ernten der Früchte von fragwürdiger Reife kein befriedigendes Ergebnis gebracht oder waren im Zweigwerk hängen geblieben. Im praktischen Drang schien ihnen die Befestigung der Rabatten geeigneter und mit mit nur wenig Geschick hatten sie erste Steinbrocken aus dem Saum des Beetes gerissen und zu müde nach oben springenden Geschossen verwandelt.

Buben sind gerne mit dem Fahrrad unterwegs. Das letzte was ihnen Erwachsene noch eintrichterten, bevor sie sich dem Augemerk der Alten daheim entziehen, ist die Helmpflicht. Plastik schützt vor Dummheit nicht, zurückfallenden Steinen aber lässt es sich damit leichter begegnen. Erwachsenem Einspruch wird mit Unflätigkeit begegnet, beharrliches Pochen auf weiterführende Überlegungen seitens der Kinder lässt in der Regel einen aus der Kleinclique aufhorchen. Schließlich wird man vor dem Hintergrund des kleinstädtischen Beziehungsnetzes als der Vater von diesem oder jenem Kind identifiziert und das Steinewerfen findet keine Fortsetzung. Zurückbleiben Blätter, die weggefegt sein werden, bevor sie Laub sind, Plastikflaschen, die sich durch infolge des Aufpralls durch Risse entleerten, oben ein Brustbeutel voller Kleingeld, der in der Gier nach Wasauchimmer an der Kordel ins hohe Grün geschleudert wurde und eben die Buben, denen erst wieder etwas Gescheites einfallen muss.

Noch keine Kastanie war reif, noch keine in jenen Tagen von alleine vom Baum gefallen. Die Vorzeitigkeit der Buben war weniger mit kindlicher Ungeduld als mit zeitgenössischer Unruhe zu erklären. Und diese schien sich fortzupflanzen. In den folgenden Tagen zogen feierabends immer mehr Väter mit ihren jüngeren Buben auf, um es den Pionieren des Unfugs gleichzutun. Im Unterschied zu diesen trotteten die Zöglinge nun wenigstens mit Beuteln und Eimerchen um die Bäume, um ab und an eine von Vater geschossene Frucht aufzuklauben und aus der stachligen Schale zu puhlen. Nun waren Raffinesse und Erfahrung am Werk und die Kinder wurden nicht mehr von fremder Stimme angehalten, die Blümlein, die in knieender Handarbeit gesetzt wurden, beim Sammeln nicht zu zertreten.

Schließlich standen auch Mütter in den Trauben der Kinder. Vermutlich war an den Vormittagen in den Klassenzimmern der Schulen der Befehl ausgerufen worden: „Alle Kinder bringen Kastanien!“. Bedächtig sprangen Mädchen in ihrer Pflichterfüllung über die Wiese, ließen Mutter das vermeintlich Kostbare horten und sich Trinkflasche und Äpfele aus der Plastikdose reichen. Währenddessen waren es wieder Buben, die im doppelten Tempo unsittlich prall gefüllte Tüten davontrugen, um sich so der Anerkennung ihrer Lehrerin zu versichern.

Ein Mann erzählt mir abseits, wie er, als alle Zahnstocherbastelei und alles Auffädeln sich erübrigt hatte, dem vom Buben angehäuften Überfluss ein Ende machen wollte, und er den schweren Sack in den Waldpark zur Schweinfütterung führte. Dort ließ ihn der der Wildhüter wissen, dass Keiler und Bache diese Form von Rohkost leicht außer Acht lassen, weil auch sie in ihren Ansprüchen inzwischen den Aromen der Futtermittlelindustrie folgen. Kastanien sind demnach keine Perlen mehr für Säue.

Hin und wieder legt sich die Aufregung im Park. Entweder liegen die Kinder endlich im Bett, sind in der Schule oder ähnliches. Meine Erfahrung sagt mir, wenn die Temperatur steigt, dann fallen auch die Kastanien. Morgens, wenn der Pulk längst über den gegenüberliegenden Zebrastreifen gezogen ist und aus der Ferne nur ab und an ein Gong zu hören ist, stehe ich wieder herum oder laufe hin und her und denke. Wie gute Gedanken, knallen dann die Früchte hernieder. Die Schalen platzen auf und die reifen Früchte springen einen Meter weiter. Ohne mir den Anschein von Eile zu geben, gehe ich geradlinig dorthin, wo die kullernde Begehrlichkeit zur Ruhe gekommen ist, hebe sie auf, und hoffe, dass alsbald jemand daher kommt, dem ich sie schenken kann.

Der rege Anteil am Geschehen dessen, was in der Stadt als Natur und Lauf der Jahreszeit verkauft wird, dient auch der Belebung des eigenen Gemüts. Bescheidene ältere Damen bücken sich vorsichtig, um manche der gefallenen Kastanien, die ihnen in den Weg kullert,  bevor sie sie den Kindern streitig machen müssen, einzustecken. Ich weiß nicht, was den Glanz und die Glätte dieser Früchte bedingt. Aber während die einzelne Kastanie in der Hand meist ein Glücksgriff ist, sind sie in der Menge und dem Begriff nach längst nur mehr ein Klischee, mit dem jährlich zu rechnen ist, wie mit den ersten schönen Tagen in der Sonne oder dem ersten Schultag nach Ferienende. Ihre glatte Oberfläche ist nur ein Schmeicheln.

Auch ich erinnere mich, wie wir als Jugendliche mit einer kreisenden Flasche Rotwein Kastanien gesammelt hatten. Im Schneidersitz hatten wir uns unter die Baumkrone gesetzt, mit den ineinander gelegten Händen eine Mulde geformt und gewartet, bis eine möglichst große Frucht vom Baum fällt. Die Ungeduldigen unter uns legten zwei Handrücken auf die Knie und wünschten in der halben Zeit nicht weniger Kastanien in die Tasche stecken zu können.

Ein kräftiger Regen durchbrach die Ordnung der Woche. Ein Regenbogen stand über den Häusern. Im Park blieb der plötzliche Sonnenschein lange unbemerkt und wir standen allein unter den großen Bäumen. Mit einem Mal fing die Zeit sich wieder ihrer alten Ordnung zu erinnern, und eine nach der andere, selten allein, fielen die Kastanien von den Bäumen. Groß waren die Früchte, dass sie vom Kind im Wagen nicht mehr verschluckt werden konnten. Dann schob ich es zur Sicherheit unters Verdeck.

Mittlerweile kullern die Kastanien in alle Ecken der Stube. Sie liegen dann unterm Bett, wo noch Luftballons vom letzten Wahlkampf schrumpeln. Sie vertrocknen in Schalen auf dem Fensterbrett und vor den Büchern auf dem Brett. Diese Episode ähnelt jener im frühsommerlichen Kaulquappentheater. Nur dass es dort um tierisches Leben oder absehbaren Tod geht, wenn die vergessenen kleinen Tiere auf der Terrasse im Glas nach Sauerstoff gieren. „Kinder, wie die Zeit vergeht.“